Der Geist der Ahnen
Die sinkende Sonne brannte
auf ihren Nacken, als die Jägerin die Zunge unter einem Stamm vergrub.
Gewandt kletterte sie die Geröllhalde hoch, die jetzt wieder solide und fest zu sein schien. Sie kletterte bis zu jener unauffälligen Stelle, um dort die Zunge tief unter dem rottenden Holz zu vergraben. An einem Platz, den sie niemals mehr wieder finden würde. An dem sie nie wieder, weder in diesem Leben oder im nächsten zurückkehren würde.
So verlangte es das Ritual.
Nur so wurde die Zunge zu
einer mächtigen Geisterzunge. Das vollkommene Ritual würde ihr das-Verstehen-von-allem
verleihen.
Sie flüsterte leise, aus
großem Respekt.
„Ihr Ahnen, helft mir.“
Dabei
schreckte sie einen Marder auf. Er flüchtet von den oberen Etagen in den Laubkronen
hinunter in das Unterholz: eine braune Bewegung in grünen Schatten aber eine Antwort
erhielt sie keine.
Sie erwartete auch keine.
Zu oft schon war sie auf das
Unwahrscheinliche gestoßen und war dem Unmöglichen ausgeliefert gewesen, um
ihre Welt mit ihren eigenen Erwartungen einzuschränken. Und so nahm die Jägerin
wieder die Spur des Wolfes auf. Seinem Weg hinunter ins Tiefland.
Wie lange wanderte sie
seitdem schon aus diesen Bergen hinaus? Sie dachte über einzelne Abschnitte ihres
Weges nach: den Boden, der so nass war, dass sich jeder seiner Fußabdrücke
sofort mit Wasser füllte, Äste so dicht
belaubt, dass sie kein Sonnenlicht mehr durchließen, Unterholz so verwachsen,
dass sie kaum eine Armeslänge hinein sah. Sie folgte einem Bach, der hinunter
führt in ein tiefes Tal.
Die Jägerin, so sagte sie
sich, würde auf Menschen treffen, wenn sie weiter hinunter ins Tiefland
wanderte.
Sie brauchte deshalb einen
neuen Namen. Sie brauchte eine neue Identität. Doch dieser Gedanke machte ihr
auch Angst. Sie fürchtete, ihr vertrautes Selbst zu verlieren: jene Seele als
namenlose Jägerin, die im Einklang mit ihrer wahren Natur war. Dafür sollte ein
Name stehen. Ein Name, den auch die Ahnen und die Geister verstehen werden. Es
sollte ein Name sein, der am wenigsten schädlich ist und der den Ruf oder die
Stimme eines Tieres nachahmt.
Und dafür war sie bereit, Opfer
zu bringen.
Sie hatte ihren Körper mit
Zweigen abgerieben, bis ihre Haut blutete. Sie hatte ihre langen schwarzen
Haare mit einem Rindenstreifen zusammengebunden und sie hatte gefastet.
Das Opfer, das sie bringen
wollte, sollte unter einem neuen Namen dargebracht werden. Alles, das mit ihrem
Leben als Jägerin verbunden war, jede Erinnerung, sollte mit einem neuen Namen
enden.
Noch einmal lachte sie, als
ihr die jüngste Begegnung mit den Die-dem-Tod-trotzen einfiel. Als ob sie
selbst so wichtig für jene wäre, die Jahrhunderte überdauern. Welche Närrin sie
doch war. Diese eigene Wichtigkeit, ein Wesenszug des Menschen, musste sie
loswerden. Sie wollte dafür noch mehr von einem Tiergeist annehmen. Sie war
bereit, das, was sie für „menschlich“ hielt, abzustreifen, herzugeben,
aufzugeben.
Ihr Wohltäter sagte einmal
„Ein Schamane wird
deshalb zum Geist-Tier-Menschen, weil nur dies ein vollkommenes Wesen ist. Ein
Tier würde niemals die Fehler machen, wie sie Menschen begehen.“.
Sie verstand, was er damit
meinte.
Eine Hummel ließ sich nach
einigem Herumschwirren auf ihren Handrücken nieder. Sie schimmerte in Schwarz
und Gold, eine Hummel vom Wald.
Die Jägerin starrte auf die
seltsame Hummel auf ihrer Hand. Eine solche hatte sie am wenigsten erwartet.
Sie sah Hummel mit enormer
Klarheit: Das geschwollene Abdomen, schwarz als Summe aller Farben, den Körper
fest, stellvertretend für die materielle Welt. Die spinnwebartigen Flügel als
gerade noch sichtbarer Teil der Welt der Geister. Beides vereint in dieser
Hummel.
Kälte kam mit der Hummel.
Eine Kälte, die ihr in ihrem Innersten gefrieren ließ.
Einen
Moment lang war da keine Hummel mehr auf ihrer Haut. Etwas Starkes,
Schöpferisches lebte in dem Insekt, denn sie nahm immer stärker die Gegenwart
ihrer Vorfahren wahr. Sie kamen, um an ihrer neuen Erfahrung teilzuhaben.
Sie
hatte sich damit entschieden und nun stand er da, robust verbunden mit der
Schöpfung, um ihn ein Lichtstrahl, hingepinselt mit dem Schatten eines Blattes,
die Konturen um ihn über einer Vene, die Dunkelheit eines Geistes gegen dunkle
Haut.
Wie ein Schatten über ihrem Leben schien ihr der Geist.
Würde
sich Hummel nicht mehr bewegen? Sitzen bleiben auf ihrer Hand für immer?
Ihre Sinne waren geschärft, angespannt und ihre Gefühle
waren gepackt in Dunkelheit, blieben nahezu stumm.
Mit der Bedächtigkeit der Alten Zeit drehte sich Hummel
ein wenig. Es war die Bewegung eines Redners, der seine Zuhörerschaft mustert.
Facettenaugen richteten sich auf Menschenaugen. Der Thorax von Hummel pulsierte,
das Abdomen zuckte.
Wenn der Geist friedvoll
davon flog, dann war es ein Zeichen. Sie würde hinuntergehen in das Tal, sie
würde weiterhin das Leben der Jäger und Sammler führen. Sie würde vielleicht
aber jene schreckliche Wildheit, die von ihr Besitz ergriffen hat, abstreifen
oder verlieren. Sie würde wieder eine Kopie der Menschen werden. Dieser Gedanke aber stimmte sie
sehr traurig.
Doch als sie merkte, dass sie nur in Selbstmitleid schwelgte, änderte sich ihre Stimmung schlagartig. Jetzt nahm sie das Drängen der Geister ihrer Ahnen wahr. Sie spürte jenes Reich, in dem
all jene, die vor ihr gegangen waren, gefangen gehalten wurden in Verzweiflung.
Sie riefen ihr zu:
„Die Welt ist aus dem Gleichgewicht gekommen
und deshalb forderten die Ahnen und Geister einen Unschuldigen. Einen einzigen
Menschen für all die Grausamkeit, welche die Menschheit all den anderen Wesen
antut. Dies ist der Tribut, den die Menschen seit Beginn an leisteten. Einen Unschuldigen, der
aus freien Stücken in die Welt der Geister geht. Als Bote soll er kommen für
all jene, die unschuldig starben.“
Dann hörte sie die Botschaft
eines Geistes wie Trommelschläge, die im Rhythmus ihres Herzens dröhnten:
„Du musst einen
Unschuldigen finden. Und du musst ihn töten!“
Danach war es still.
Eine
Hummel hatte zu ihr gesprochen.
Die Jägerin fühlte sich aufgefordert von einem wahren,
einem alten Geist:
Töte einen Unschuldigen!
Kaum hatte sie sich dieser
Worte erinnert, als sie einen Vogel rufen hörte: es klang wie das Wiehern eine
Pferdes oder der Ruf eines Vogels oder der Freudenschrei eines Menschen:
Sie sprach es laut aus:
„Jeeeaaah“
„Jea,
ich bin Jea.“
Es war
ein kraftvoller Name
Dann
sagte sie laut:
"Ich
bin Jea. Ihr werdet euch erinnern, Wesen des Waldes. Erinnert euch an Jea, so
wie sich die ganze Welt erinnern wird. Ich bin Jea. Zehntausend Nächte von nun
an, zehntausend Jahreszeiten von jetzt, wird die Welt Jea kennen und verstehen.“
Sie
fühlte, dass sie eine neue Identität bekommen hatte, die sie erst ergründen und
verstehen musste. Sie verlor kurz die Klarheit des Geistes und fühlte das Streben
beider Seelen. Alle ihre Sinne entfernten sich aus ihrem Körper, hinauf in die
Baumkrone über ihr. Die Luft um sie war durchtränkt vom Sonnenlicht, dem
Murmeln und der Feuchte des Baches neben ihr.
Sie
konnte nicht zurück. Sie musste den Willen der Geister erfüllen. Geister waren
erbarmungslos, das wusste sie.
Jea
musste töten.
Was Hummel zu sagen hatte, war gesagt und flog
davon, hinauf ins Blätterwerk hoch über ihr.
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